Außer Kontrolle?

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Die vom Ukraine-Krieg ausgelösten bzw. verstärkten internationalen Krisenherde scheinen weiter zu eskalieren. Als Folge haben die Risiken für die deutsche Wirtschaft erheblich zugenommen. Steht das Land vor einem „perfekten Sturm“ mit anschließender Rezession?

Ungewisse Zukunft durch Folgen der Ukraine-Krise

Die Folgen der Ukraine-Krise lassen viele Fragen für die Zukunft offen.

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Mit äußerst gemischten Gefühlen geht Deutschland in die Sommerpause. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat es keine vergleichbare Anhäufung von derart krisenhaften Zuspitzungen gegeben. Pandemie, Konjunktureinbruch, Krieg, Inflation, Zinswende, Gefährdung der Energieversorgung und drohende Hungersnöte – die Krisen-Manager in Politik und Wirtschaft scheinen den sich überschlagenden Entwicklungen weder analytisch noch problemlösend gewachsen zu sein.

Nie zuvor gekannte Beschaffungsprobleme

Als brandgefährliche Auswirkung dieser historisch einzigartigen Krisen-Mixtur treten – infolge der gestörten Lieferketten – massive Beschaffungsprobleme bei den Industrieunternehmen auf. Viele Zulieferer können die einigermaßen pünktliche, zuverlässige Belieferung zu den gewohnten Preisen nicht mehr garantieren. Praktiker berichten von zunehmend „balkanisierten“ Usancen bei der Verbindlichkeit von Angebotskonditionen. Immer mehr Zulieferer schließen in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen mittlerweile die Haftung für die Einhaltung von Lieferterminen und Preiszusagen aus.

Als fatal erweisen sich die daraus folgenden Kettenreaktionen bei den Abnehmern und Verarbeitern, die sich wachsenden Risiken durch teilweise erhebliche Lieferverzögerungen und nachträgliche Preissteigerungen weitgehend wehrlos ausgesetzt sehen. Die Folgen: Der Wegfall gesicherter Daten untergräbt die Planbarkeit und führt zu Umsatzverschiebungen, Gewinnausfällen, Vorfinanzierungsbedarf und Liquiditätsproblemen. Jeweils rund 90 Prozent der von ifo befragten Firmen aus Elektroindustrie, Maschinenbau und Automobilbranche haben erklärt, dass es ihnen derzeit an Materialien und Vorprodukten mangele.

Dabei handelt es sich offenbar nicht nur um kurzfristige Beschaffungsprobleme, sondern um einen gravierenden Störfaktor, der die Unternehmen noch weit bis ins Jahr 2023 belasten wird. Die deutsche Industrie rechnet derzeit im Branchendurchschnitt mit einer Fortsetzung der Materialknappheit um mindestens 10 Monate. Es gibt derzeit noch keine Drehbücher und Blaupausen, um diese bisher nicht gekannte Baustelle schnell in den Griff zu bekommen.

Industrie unter Druck

Jedes fünfte Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie sieht sich angesichts der hohen Energie- und Materialkosten sowie der wirtschaftlichen Unsicherheiten infolge des Ukraine-Kriegs existenziell gefährdet. Das hat eine im Mai erfolgte Umfrage des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall ergeben. 80 Prozent der Firmen bezeichnen die massiven Kostensteigerungen bei Energie und Material als substanzielle Belastung. Fast ein Drittel der Betriebe hat wegen der gestörten Lieferketten und Transportprobleme bereits die Produktion gedrosselt oder wird dies kurzfristig tun.

Sollte es zu einem Embargo bei russischem Gas kommen, so wäre mit schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen. Fast jedes vierte Unternehmen geht in diesem Fall von einem vollständigen Produktionsstillstand aus. Davon wären – so der Verband – etwa 300.000 Beschäftigte direkt betroffen. Angesichts dieser Gemengelage hat sich die Investitionsbereitschaft deutlich abgekühlt. Über 55 Prozent der befragten Betriebe verschieben eigentlich vorgesehene Investitionen, was die Anpassung an den Strukturwandel einbremst und die Nachfrage am Markt senkt. Und: Jedes fünfte Unternehmen kündigt an, Personal abzubauen.

Putins Gashahn

Auch das Prognos-Institut hat sich mit den Folgen eines Totalausfalls der russischen Gaslieferung befasst. Sollte im zweiten Halbjahr kein russisches Gas mehr zur Verfügung stehen, so werde Deutschland in eine tiefe Rezession gleiten mit einem Einbruch des BIP um 12,7 Prozent. Davon könnten rechnerisch etwa 5,6 Mio. Arbeitsplätze tangiert werden.

Am härtesten betroffen wären die Glasindustrie und die Roheisenverarbeitung mit Produktionsrückgängen um fast 50 bzw. 34 Prozent. Die volkwirtschaftlich besonders bedeutende Autoproduktion würde um 17 Prozent zurückgehen. Den gesamten deutschen Wertschöpfungsverlust im zweiten Halbjahr 2022 beziffert Prognos für diesen Fall auf 193 Mrd. Euro. Das Institut stellt im Klartext fest: „Putin kann uns jederzeit den Gashahn zudrehen.“

„Jetzt brennt es lichterloh“

Noch einigermaßen zuversichtlich zeigt sich der BDI mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung. Gleichwohl hat der Industrieverband seine Konjunkturprognose für das laufende Jahr deutlich abgesenkt – von 3,5 auf 1,5 Prozent. Diese Schätzung steht allerdings unter der Voraussetzung, dass ein Gaslieferstopp mit anschließender Wirtschaftskrise ausbleibt. Der Industrie mache „die doppelte Krise aus der russischen Invasion in die Ukraine und den Auswirkungen der Covid-Pandemie“ zu schaffen. Der BDI-Präsident merkt an: „Massive Abhängigkeiten als Preis für Kostenvorteile und Skaleneffekte zu akzeptieren, das war aus heutiger Sicht genauso falsch wie der Verzicht unseres Landes auf eigene hinreichende Investitionen in seine Verteidigungsfähigkeit. Wir haben uns die Feuerwehr gespart, weil wir das Brandrisiko für vernachlässigbar gehalten haben. Jetzt brennt es lichterloh.“ Der BDI rechnet frühestens zum Jahresende mit einer Rückkehr der wirtschaftlichen Entwicklung auf das Niveau vor der Pandemie.

Eine Unterbrechung der russischen Gaslieferung „hätte dagegen katastrophale Auswirkungen und würde die Wirtschaft unweigerlich in die Rezession schicken“. Das globale BIP-Wachstum ist seit Januar – nach Angaben der Weltbank – um die Hälfte zurückgegangen. Das dürfte auch dem deutschen Außenhandel Rückenwind nehmen. So hat der BDI seine Exportprognose bereits von 4,5 auf 2,5 Prozent reduziert. Das ifo-Institut meldet für Juni – gegenüber dem Vormonat – einen leichten Rückgang der Exporterwartungen. Als Negativ-Faktoren wirkten Logistikprobleme und allgemeine Unsicherheit.

„EZB in der selbst gestellten Falle“

Der böse Geist der Inflation ist aus der Flasche. Schon 85 Prozent der Bundesbürger haben sich auf weiter steigende Preise eingestellt, 63 Prozent sorgen sich um den Werterhalt ihrer Ersparnisse. Die Fakten sind mehr als beunruhigend: Die Inflationsrate in Deutschland ist im Juni – gegenüber dem Vorjahresmonat – um 7,6 Prozent gestiegen. In der Euro-Zone liegt der Wert schon bei 8,7 Prozent.

Die deutschen Importpreise sind im Mai mit einem Anstieg um 30,6 Prozent regelrecht explodiert. Vor allem die kräftigen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln haben die Teuerungsrate in Deutschland auf den höchsten Stand seit fast 50 Jahren getrieben.

Die Bundesbank prognostiziert mittlerweile für das laufende Jahr eine Geldentwertung von 7,1 Prozent bei einem BIP-Wachstum um lediglich 1,9 Prozent. Ihr Präsident hat die EZB mehrfach aufgerufen, „nicht zu spät zu handeln“. Wenn die Geldpolitik jetzt nicht agiere, würden später noch stärkere Zinserhöhungen erforderlich, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Der Ökonom Lars Feld, der den Bundesfinanzminister berät, warnt und fordert: „Wir laufen in Europa womöglich auf zweistellige Inflationsraten zu. Die EZB muss handeln – ohne Rücksicht auf die Finanzpolitik.“

Tatsächlich sitzt die EZB mittlerweile hilflos in der selbst gestellten Falle. Würde sie endlich im Sinne ihres zentralen Auftrags die Zinsen deutlich anheben, würde sie den ohnehin stark zunehmenden Rezessions-Trend extrem beschleunigen und die südeuropäischen Schuldenländer in den Staatsbankrott treiben. Allmählich dürfte selbst den euromantischsten Politikern die Erkenntnis dämmern, dass die exzessive EZB-Geldflutung der Märkte die anstehenden Problemlösungen nur auf die lange Bank geschoben und letztlich vergrößert hat. Man darf davon ausgehen, dass die Regierungen Frankreichs, Italiens, Spaniens und Griechenlands auch weiterhin Mittel und Wege finden werden, um nennenswerte Zinsanhebungen zu verhindern. Letztlich bleibt daher nur eine Fortsetzung der Politik des Gelddruckens. Die Befürworter dieser irgendwann irreversiblen „Strategie“ des kleinsten gemeinsamen Nenners verweisen gerne auf Japan, wo diese Abart der „Modern Monetary Theory“ ja angeblich gut funktioniere.

Ob vor diesem Hintergrund die vom Bundeskanzler reanimierte „konzertierte Aktion“ gegen eine „dauerhafte Inflationsspirale“ den zu wünschenden Erfolg haben wird, erscheint zweifelhaft. Wahrscheinlicher dürfte ein Wiederaufflammen der Euro-Krise sein. Am Horizont lauert die Transfer- und Schuldenunion. Noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist übrigens der Anteil der Energiewende an der Inflation. Wissenschaftler erwarten, dass die Transformation zu einer klimafreundlicheren Wirtschaft erhebliche Teuerungen auslösen werde. Die Umweltpolitik werde die Kosten von Produkten und Dienstleistungen und damit auch die Verbraucherpreise drastisch erhöhen. Dass diese Diskussion unter dem Schlagwort „Greenflation“ geführt wird, dürfte bei manchem Parteipolitiker Schnappatmung auslösen.

Wunsch und Wirklichkeit

Der Ökonom Hans-Werner Sinn weist darauf hin, dass die These, grüne Energie werde – im Vergleich zu konventioneller Energie – den materiellen Wohlstand und die Umweltqualität begünstigen, ein „Widerspruch in sich“ sei. Als Begründung führt der frühere ifo-Präsident an, der Staat müsse grüne Energie entweder durch ein Verbot konventioneller Energien oder eine künstliche Verteuerung erzwingen, was die Inflation anhebe und den materiellen Lebensstandard senke. Fraglich sei zudem, ob der Umweltnutzen überhaupt greife, wenn Europa – wie bei der Zurückdrängung von Verbrennungsmotoren – allein handle. Die in Europa eingesparten Erdöl-Mengen würden in anderen Teilen der Welt verbraucht und verursachten dort exakt den Ausstoß an Kohlenstoffdioxid, der hier vermieden werde. Sinn bringt seine Kritik an der deutschen Energiepolitik so auf den Punkt: „Wir ruinieren die deutsche Autoindustrie, fördern unsere fernöstlichen Konkurrenten und helfen der Umwelt nicht einmal ein bisschen.“

Über den Autor

Dietrich W. Thielenhaus

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus, der vor seinem Studium Bankerfahrung gesammelt hat, kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Geldanlage.

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