Mit einem „Big Bang“ will die EZB die Zahlungsverkehrs-Infrastruktur modernisieren. Obwohl nicht alles reibungslos funktioniert, wird am Einführungstermin unbeirrt festgehalten. Die Folge: Das Rückgrat des europäischen Zahlungssystems droht zu kollabieren.

Neue Zahlungsverkehrs-Infrastruktur mit Target2

Target2 wird auf eine neue Zahlungsverkehrs-Infrastruktur umgestellt

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Der Stichtag ist für den 21. November terminiert. Dann will die EZB eine neue Zahlungsverkehrs-Infrastruktur für TARGET2 einführen, gleichzeitig will SWIFT für den Nachrichtenaustausch im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr neue Formate einführen. Und wie so häufig bei Großprojekten läuft auch in diesem Fall nicht alles reibungslos. Eigentlich hätten die Notenbanker das Projekt längst verschieben müssen, aber der passende Zeitpunkt verstrich ungenutzt. Denn je näher der Termin rückt, desto schwieriger wird es zurückzurudern.

Das Worst-Case-Szenario für den Tag der Systemumstellung ist düster: Im gesamten Euro-Raum bricht der Zahlungsverkehr zwischen den Banken – inklusive der Notenbanken – zusammen. Sämtliche Geldtransfers im Großbetrags- und Individualzahlungsverkehr in Euro kommen zum Erliegen. Die Auswirkungen werden – wenn der schlimmste Fall eintritt – dramatisch sein. Vor allem auch deshalb, weil es für die Systemumstellungen keine sichere Rückfallebene gibt.

Noch läuft das neue System nicht rund

Ganz so schlimm wird es hoffentlich nicht kommen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass mit dem „Big Bang“ zumindest einzelne Institute oder auch einzelne Teilbereiche des Zahlungsverkehrs ausfallen, ist erschreckend groß. Denn die Durchführung der Tests mit dem Eurosystem und deren Ergebnisse gestalten sich – wie aus dem Markt zu hören ist – mehr als schwierig. Im Rahmen der sogenannten „T2-/T2S-Konsolidierung“ sollen schließlich gleich drei Teilbereiche enger zusammengeführt und modernisiert werden. Unter der federführenden Projektbegleitung der Deutschen Bundesbank plant die EZB unter anderem:

  • Das TARGET2-System grundlegend zu modernisieren. Das System für den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr zwischen den EU-Zentralbanken und den einzelnen Geschäftsbanken soll künftig effizienter, sicherer sowie ohne Zeitverzug funktionieren und auch das Liquiditätsmanagement der teilnehmende Banken beinhalten.
  • Im Rahmen einer Überarbeitung von TARGET2-Securities soll eine harmonisierte und zentrale Wertpapierabwicklung europaweit gesichert werden.
  • Das „Target Instant Payment Settlement“ (TIPS) genannte Abwicklungssystem soll künftig auch Echtzeitzahlungen mit unterschiedlichen Währungen umsetzen. Bislang war dies nur in Euro möglich. Ziel von TIPS ist es, sich von ausländischen Anbietern unabhängig zu machen.

Mit dem Blick auf neue Industriestandards und IT-Formate möchte die EZB ihre Systeme zukunftssicher aufstellen und vereinheitlichen. Dazu gehört auch die Einführung des ISO-20022-Standards, eines weltweit genutzten Formats für Zahlungsnachrichten.

Auch SWIFT setzt auf neue Standards

Aber es sind nicht allein die Euro-Banker, die für den 21. November grundlegende Neuerungen planen. Zeitgleich will SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication) ihre Nachrichtenstandards hinsichtlich Software und Services in einem neuen Gewand auskleiden. Auch das SWIFT-Kommunikationsnetzwerk, an dem immerhin 11.000 Banken aus mehr als 200 Ländern hängen und weltweit ihren Zahlungsverkehr in vielen Währungen betreiben, wird auf die ISO-20022-Norm (MX-Transaktionen) umstellen, bis 2025 kann der alte ISO-15022-Standard (MT-Transaktionen) aber noch genutzt werden.

Wobei SWIFT zumindest schon einen Schritt zurück gewagt hat: Vor wenigen Wochen kündigte die Organisation an, die neue Transaction Manager Plattform erst Ende 2023, statt im November 2022 vollumfänglich zur Verfügung zu stellen. Mit dieser Funktion soll beim grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr der Datenverlust (Truncation) verhindert werden. Dieser entsteht zum Beispiel bei der Konvertierung zwischen alten und neuen Formaten. Nichtsdestotrotz hält SWIFT am neuen XML-Standard für den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr ab November 2022 fest. Banken, die sich auf die Funktionalitäten der Transaction Manager Plattform eingestellt haben, müssen jetzt also auf die Schnelle eine Alternative finden.

Knapper Zeitplan setzt Banken unter Druck

Der Aufwand ist gigantisch, schließlich müssen allein in Deutschland rund 1220 Institute mit der Bundesbank auf die neuen TARGET-Services migrieren. In Kombination mit den SWIFT-Änderungen ergibt diese Gemengelage schon fast einen „perfekten Sturm“. Innerhalb der Bankenbranche wird an dem straffen Zeitplan deshalb schon seit Längerem Kritik geübt – allerdings ist diese an den Verantwortlichen bislang abgeprallt. Zwar hatte im Juli 2020 der EZB-Rat zusammen mit SWIFT schon die Projektlaufzeit von November 2021 auf November 2022 verlängert, seitdem wird aber unbeirrt an dem Zeitplan festgehalten.

Aus den Reihen der Projektverantwortlichen – hochkarätig besetzt mit EZB, SWIFT und den jeweiligen Notenbanken – möchte sich niemand die Blöße geben, beim Zahlungsverkehr der Zukunft den Anschluss verpasst zu haben und den Go-Live abermals hinauszuzögern. Dabei ist es für die Branche wie für den Bankkunden wichtig, dass alle Beteiligten eine gemeinsame Linie finden und nicht aus falschem Stolz ihr jeweiliges Projekt im Alleingang durchziehen. Fraglich ist nur, ob es überhaupt noch möglich ist, jetzt auf die Bremse zu treten.

Ausfall des Zahlungsverkehrs wäre verhängnisvoll

Denn die größeren Geschäftsbanken sind in ihren Vorbereitungen schon sehr weit und haben ihre Systeme für den 21. November vorbereitet. Vor allem aber: Viele haben ihre Support- und Service-Verträge für die Alt-Systeme bereits gekündigt. Sollte in den wenigen verbleibenden Tagen doch noch panikartig die T2/T2S-Konsolidierung verschoben werden, wären also ausgerechnet diejenigen in der Bredouille, die sich am besten vorbereitet haben. Sie müssten ihre abzulösenden Systeme länger pflegen und gleichzeitig fit machen für neue regulatorische Vorgaben, die zum Jahreswechsel anstehen. Und wenn SWIFT nicht auch verschiebt, müssten sie kurzfristig eine zusätzliche, ungeplante Zwischenlösung für die Kommunikation zwischen alten MT- und den neuen XML-Formaten herstellen. Eine solche Verschiebung dürfte also nur in Frage kommen, wenn sowohl SWIFT und das Eurosystem dies zeitgleich tun.

Angesichts der fatalen Folgeschäden und des langfristigen Reputationsverlustes wäre es jedoch fahrlässig, an dem Termin festzuhalten, weil längst noch nicht alle Testreihen ohne Probleme abgeschlossen sind. Für den Endkunden wird sich bei einer – wann auch immer sie erfolgen wird – erfolgreichen Umstellung nicht allzu viel ändern. Natürlich ist es schön, wenn der Zahlungsverkehr schneller und günstiger abgewickelt werden kann, aber das ist eher ein „nice to have“ – und kann einen Fristaufschub vertragen. Der Zahlungsverkehr selbst ist jedoch ein „must have“.


Bernd Dittrich

Bernd Dittrich ist Koautor des Beitrags. Er ist Zahlungsverkehrsspezialist und Senior Manager beim Beratungsunternehmen Cofinpro. Davor hat er bei KPMG als Lead Specialist Payments im Financial Services Consulting eine Vielzahl von Zahlungsverkehrsprojekten betreut. Weitere Stationen lagen im Zahlungsverkehr bei Banken für ein internationales Institut im Ausland und bei der HypoVereinsbank.